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Kategorie: Ohr

Idiopathischer Tinnitus: mögliche Ursachen

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von H.P. Zenner

von H.P. Zenner

Die Entstehung von Ohrgeräuschen -  Hypothesen und Modelle

Das Thema ist nicht einfach. Und doch: Es soll hier versucht werden, es mit einfachen Worten verständlich zu machen. Der eine oder andereFachmann möge verzeihen, wenn die Präzision und die Vollständigkeit darunter leiden.

 

Was ist Tinnitus? 

Es ist ein Alarmzeichen des Hörsystems. Das Hörsystem besteht aus dem Ohr, denLeitungsbahnen zwischen dem Ohr und dem Teil des Gehirns, das für das Hörenzuständig ist. Es ist ein Sinnessystem. Sinnessysteme können auf jedeSchädigung nur innerhalb ihrer Sinnesqualität, wir sagen auch„Sinnesmodalität“, antworten. 


Es wird Sie wundern, wenn ich dazu zunächst dasAuge betrachte: Sie werden es recht schnell verstehen. Wenn Sie mit der Fausteinen Schlag auf den Augapfel bekommen, dann empfinden Sie keinen Schmerz. DasSehsystem reagiert vielmehr ausschließlich mit seiner Sinnesmodalität: Zumeinen sehen Sie schlechter und zum zweiten sehen Sie etwas, was nichtexistiert, nämlich Sternchen. Gleiches gilt auch für das Hörsystem - das zweitegroße Sinnessystem. Jede Schädigung äußert sich ausschließlich in einem oder inzwei Symptomen: Das Hören wird schlechter und/oder es tritt Tinnitus auf. 


Ausdiesem Grund kann man nicht rückwärts schließen: Ich habe einen Tinnitus, alsoliegt diese oder jene Ursache vor. Fast jede Ursache im Hörsystem kann auch zueinem Ohrgeräusch führen. Das bedeutet: es gibt offensichtlich vielfältigeUrsachen für ein Ohrgeräusch. Dazu möchte ich kurzerläutern, wie überhaupt das Hörsystem aussieht:


Das Hörsystem 

Sie alle wissen,daß Schall durch den äußeren Gehörgang in das Ohr eindringt. Der Schall trifftauf das Trommelfell. Das Trommelfell wird in Vibrationen versetzt. Im Anschlußdaran werden die Gehörknöchelchen Hammer, Amboß und Steigbügel ebenfalls inVibrationen versetzt. Diese Vibration wird ins InnenOhr weitergegeben. DasInnenOhr ist in einer Flüssigkeit gelagert. Diese Flüssigkeit heißt Perilymphe.Wenn nun die Vibration von den Gehörknöchelchen auf die Perilymphe trifft, dannwird in dieser Flüssigkeit eine Welle erzeugt. Diese Welle können Sie sichungefähr so vorstellen wie eine Meereswelle, die zum Strand wandert und dortschließlich versandet. Da die Welle wandert, heißt der Fachausdruck im Ohr auch„Wanderwelle“. Die Besonderheit im InnenOhr ist allerdings, daß die Wanderwelleganz plötzlich, kurz bevor sie „am Strand“ ankommt, auf einmal viel größerwird. Also ganz anders als beim Meer. Dazu besitzt das InnenOhr etwa 20.000kleine Motoren. Die Motoren sitzen in den sogenannten äußeren Hörsinneszellen (Fachbegriff: äussere Haarzellen).Diese verstärken ganz plötzlich die Wanderwelle. Durch die Verstärkung wird dieWanderwelle oben an ihrer Spitze ganz scharf: Sie bleibt nicht so stumpf undflach wie die Welle des Meeres, sondern ganz scharf und spitz wird sie. DieWellenspitze wird anschließend von einer zweiten Sorte von Sinneszellen, densogenannten inneren Sinneszellen (innere Haarzellen), wahrgenommen. Dadurch, daß die Wanderwellenganz spitz sind, haben wir, wenn wir gesund sind, die Möglichkeit, die Spitzenund damit die einzelnen Tonhöhen auseinanderzuhalten.

 Tonhöhenauseinanderzuhalten ist eine Grundvoraussetzung, um Sprache zu verstehen. VieleSchwerhörige haben genau diese Fähigkeit verloren. Ihre äußeren Hörzellen sindnicht mehr in der Lage, die Wanderwelle zu verstärken und zuzuspitzen. Fürviele der Betroffenen ist es daher weniger ein Problem, leiser zu hören,sondern ihr vordringliche Problem ist es, Sprache nicht mehr vollständig zuverstehen, weil die Frequenzen, die Tonhöhen, nicht mehr richtigauseinander gehalten werden können. Von den inneren Hörzellen wird das Signal anden Hörnerv und von diesem auf elektrische Art und Weise zum Gehirntransportiert und dort verarbeitet. 

Im Gehirn gibt es verschiedeneVerarbeitungsstufen: In der ersten Verarbeitungsstufe zeigt das Gehirn an, es höre etwas . In der zweiten, nächst höherenVerarbeitungsstufe identifiziert es das Gehörte als Sprache ((sog. Perzeption). Und in der drittenVerarbeitungsstufe wird die Sprache als ein bestimmtes Wort, z.B. als das Wort„Welle“ erkannt, und damit haben Sie es verstanden (sog. Kognition). Auf jeder der genanntenHierarchiestufen können Hörstörungen und damit Tinnitus ausgelöst werden. 

Bevorich jedoch darstelle, welche Vorstellungen die Wissenschaft entwickelt hat,wodurch auf diesen Hierarchiestufen Tinnitus entsteht, muß ich Ihnen noch einewichtige Zusatzinformation geben: Es gibt bis heute keine Methode, mit der manobjektiv bestimmen kann, ob jemand ein subjektives Ohrgeräusch hat. Dies hat naturgemäß zurFolge, daß wir auch nicht in der Lage sind, Tiere zu untersuchen, ob sie nunOhrgeräusche haben oder nicht. Deshalb können beispielsweise kaum zuverlässigen Tierversuche durchgeführt werden, um etwas über Tinnitus zulernen. Also - wenn man in der Wissenschaft etwas nicht objektiv demonstrierenkann, fehlt der letzte Beweis. Die Folge ist, daß alles, was man an Vorstellungenüber Ohrgeräusche entwickelt hat, ohne Ausnahmen sogenannte Hypothesen sind.Ich versuche Ihnen ein Hypothesensystem darzustellen, bei dem aus logischenGründen die Wahrscheinlichkeit relativ hoch ist, daß vieles richtig ist. 


Einige Hypothesen

Zunächst einmal kann man sagen, Ohrgeräusche entstehen primär entweder im Ohroder im Gehirn oder im Verlauf des Hörnerven. Es gibt zahlreiche Indiziendafür, daß in der weit überwiegenden Mehrzahl der Fälle Ohrgeräusche ihre ersteUrsache (Ätiologie) im Ohr haben. Aber naturgemäß kann es gar nicht anders sein, daß einOhrgeräusch von dem Betroffenen erst dann empfunden wird, wenn die Tatsache derEntstehung des Ohrgeräusches im Ohr an das Gehirn gemeldet und dortwahrgenommen wird. Sonst empfindet man kein Ohrgeräusch.

Entstehung des Tinnitus im Ohr.  Im Ohr kann man die Entstehungsmechanismen in vier verschiedene Typeneinteilen. 

1. Zunächst einmal kann man sich sehr leicht vorstellen, daß einOhrgeräusch bei dem Mechanismus entsteht, der die „Wanderwelle“ in einkörpereigenes Signal umwandelt. Im Gehirn kommt ja keine „Wanderwelle“ mehr an,sondern ähnlich wie eine Telefonleitung ein Signal elektrisch weitergibt, sowird ein Signal vom Ohr zum Gehirn weitergeleitet. Also braucht man einenUmschaltmechanismus - im Fachausdruck „Transduktionsmechanismus“ - der dieseUmwandlung durchführt. Der Transduktionsmechanismus befindet sich in denHörsinneszellen (Haarzellen). Dazu besitzen die Sinneszellen Sinneshärchen an ihrem oberenEnde. Deshalb heißen die Sinneszellen auch Haarzellen. Beim Hörvorgang werdendie Sinneshärchen ausgelenkt. Dabei kann es zu Funktionsstörungen kommen. Wennein Sinneshärchen im gesunden Ohr umgelenkt wird, dann öffnen sich an derSpitze des Sinneshärchen für einen kurzen Moment feine Poren (sog. Ionenkanäle). Der Fachausdruckhierfür ist „Transduktions-Ionenkanäle“. Es treten dann einige wenigeelektrisch geladene Teilchen, sog. „Ionen“ (genauer: „K+-Ionen“) durch diesePoren ein. Als Folge ändern sich die elektrischen Eigenschaften im Inneren derZelle. Diese Änderung der elektrischen Eigenschaft ist bei einem normalenHörvorgang das körpereigene elektrische Signal. Man spricht von„Sensorpotential“. Nun ist es möglich, daß diese Pore, anders als bei einemnormalen Hörvorgang, nicht mehr zugeht, sondern dauernd aufbleibt. Als Folgeströmen ununterbrochen geladene Teilchen ein. Dadurch kommt es zu einerständigen Erregung dieser Hörsinneszelle. Und dieses ständige Signal wirdnatürlich an das Gehirn weitergegeben. 

2. Eine zweite Möglichkeit besteht darin,daß die Sinneshärchen, die normalerweise ganz steif sind, weich werden. Ihrsogenanntes „Aktin-Skelett“ kann nämlich unter bestimmten Bedingungenaufweichen. Eine wichtige Ursache, die das „Aktin-Skelett“ aufweicht, ist Lärm.Lärm kann Tinnitus erzeugen. Nun wissen Sie möglicherweise aus IhremPhysikunterricht, daß es die sogenannte Braunsche Molekular-Bewegung gibt. Siebesagt, daß die Flüssigkeitsmoleküle der Perilymphe sich ständig bewegen. DieBraunsche-Molekular-Bewegung ist nun in der Lage, die aufgeweichten Härchenhin- und her zu bewegen. Dadurch gehen die Poren auf und zu: Wir haben alsoerneut ein Signal. Und dieses Signal wird an das Gehirn gemeldet. Man hörteinen Tinnitus. 

3. Eine dritte Möglichkeit: Die elektrischen Teilchen, die in dieZelle hinein gewandert sind, müssen sie wieder verlassen. Dazu gibt es an denSeiten der Sinneszellen weitere Poren (z.B. „KCNQ4 K+-Ionenkanäle“). Und diesePoren können verstopfen. Wenn sie verstopft sind oder sie ihre Durchlässigkeitverändern, nimmt die Erregung der Sinneszellen zu: auch das kann Ursache fürein Ohrgeräusch sein. 

3. Oben hatte ich geschildert, daß es imInnenOhr etwa 20.000 kleine Motoren gibt. Diese Motoren befinden sich in denäußeren Hörsinneszellen - den äußeren Haarzellen. Es kann passieren, daß siesich selbst dann bewegen, wenn sie es eigentlich nicht sollen. Wenn Stille umuns herum ist, sollen sie natürlich auch ruhig sein und sich nicht bewegen.Normalerweise unterliegen sie dazu einer Eigenkontrolle. Diese Kontrolle kannversagen. Als Folge bewegen sich die Motorzellen selbst dann, wenn esunerwünscht ist. Sie produzieren dadurch eine Welle im InnenOhr und natürlichstimuliert diese Welle die inneren Hörsinneszellen, die dann Signale ans Gehirnmelden. Dadurch empfindet das Gehirn ein Geräusch. Die Tatsache, daß dieMotorzellen sich unerwünscht bewegen, hat naturgemäß zur Folge, daß sieerwünschte Bewegungen nicht mehr korrekt ausführen. Deshalb ist es rechthäufig, daß ein derartig betroffener Tinnitus-Patient im gleichenFrequenzbereich auch nicht mehr richtig hört. Eine solche Motorstörung kann auch dadurch entstehen, daß ein Kontrollmechanismus seitens des Gehirns nichtmehr richtig funktioniert. Es gibt nämlich Nervenfasern vom Gehirn zum Ohr. Siedienen ebenfalls dazu, die Motoraktivität der äußeren Hörsinneszellen zukontrollieren: Die Motoraktivität kann mittels der Nervenfasern gebremstwerden. Aber es kann passieren, daß dieser Bremsmechanismus gestört ist. DieFolge ist, daß die Motoren unerwünscht „mit Vollgas“ laufen. Wie oben bereitsdargestellt, wird als Folge über die inneren Haarzellen ein Ohrgeräuschverspürt.  

Bei einem Teil der Tinnituskranken kann das Ohrgeräuschüberraschenderweise durch Schall unterdrückt werden. Tinnitus-Masker undTinnitus-Instrumente nutzen diesen Effekt aus. In einem Teil der Fälle ist dieTinnitusunterdrückung vermutlich auf einen raffinierten Ausgleich desMotortinnitus zurückzuführen. Natürlicherweise arbeiten die äußeren Haarzellenin einem sog. „labilen Gleichgewicht“. Balanciere ich einen Stab auf meinemFinger, dann befindet er sich in einem labilen Gleichgewicht. Solange ich durchHandbewegungen ausgleiche (als Energie hineinstecke), fällt er nicht um. Einanderes Beispiel eines labilen Gleichgewichtes ist das Fahrrad. Wenn man mitdem Fahrrad steht, fällt man um. Wenn Sie Energie hineinstecken, in dem Sietrampeln und dadurch fahren, wird das Fahrrad erstaunlich stabil. Sie fallennicht um. Wenn nun eine äußere Haarzelle ihre Funktion insofern ändert, daß siesich nicht mehr so präzise bewegt, wie sie es eigentlich soll, dann droht sie -im Sinne des labilen Gleichgewichts – aus dem Gleichgewicht zu geraten: Ähnlichwie ein Fahrradfahrer taumelt, der zu langsam fährt. Statt präziser Bewegungen„taumeln“ die Haarzellen, es entstehen unerwünschte Bewegungen, die Anlaß zuTinnitus sein können. Auf dieser Hypothese beruhen akustischeTherapieverfahren, wie die Tinnitussupression. Vielleicht hat es ja der eineoder andere schon erlebt, daß das eigene Ohrgeräusch verschwindet, wenn vonaußen Rauschen angeboten wird. Durch das Außengeräusch wird die Motoraktivität der äußeren Haarzellen aktiviert – und genauso wie der Fahrradfahrer wegen derStabilisierung trampelt, bewegen sich die Sinneszellen kräftiger. Sie werden schlagartig stabil und präzise und produzieren die unerwünschten Bewegungennicht mehr. Das Ohrgeräusch ist weg. In den meisten Fällen, wenn das äußereGeräusch zu Ende ist, fallen die Haarzellen wieder zurück in ihren „langsamenTrab“, in ihre Fehlfunktion und das Ohrgeräusch tritt wieder auf. Wenn man Glück hat, bleiben die Haarzellen in ihrer stabilen Phase und das Ohrgeräuschbleibt dauerhaft weg.

Exitotoxischer Tinnitus . Tinnitus kann auch auftreten, wenn das Signal von der Hörsinneszelle zum Hörnerv weitergegeben wird. Man nennt diesen Vorgang „Transformation“. Dabei spielt ein sogenannter„Botenstoff“ (vermutlich „Glutamat“) eine Rolle. Die Hörsinneszellen haben dasSchall-Signal bekanntlich zunächst einmal elektrisch umgewandelt und geben es nun mit Hilfe des Botenstoffes an den Hörnerven weiter. Im Hörnerven wird dasSignal erneut in ein elektrisches Signal („Nervenaktionspotential“) umgewandelt. Nachdem der Botenstoff von der Sinneszelle freigegeben wurde, dockt er an der Hörnervenzelle an einen sogenannten „Rezeptor“ an. Das kann man sich so vorstellen, wie wenn der Rezeptor ein Schloß wäre und der Botenstoffein Schlüssel. Der Botenstoff paßt exakt in das Schloß hinein und dreht denSchlüssel herum. Als Folge wird die Hörnervenzelle aktiviert und gibt das Signal weiter. Dabei kann es passieren, daß die Hörzelle vorübergehend zu vielvon dem Botenstoff anbietet. In Bezug auf das Schloß heißt das, das derSchlüssel quasi überdreht wird. Dadurch wird in der Hörnervenzelle eine weitere Struktur, ein sogenannter „NMDA-Rezeptor“, der normalerweise ruhig ist,eingeschaltet. Der NMDA-Rezeptor läßt unerwünschterweise geladene Teilchen,sogenannte „Kalziumionen“ in den Hörnerven in einem Ausmaß eindringen, daß sie die Hörnervenzellen sehr stark schädigen können. Gleichzeitig sind Kalziumionen geladene Teilchen. Sie ändern die elektrische Eigenschaft des Hörnerven. Die Veränderung der elektrischen Eigenschaft ist nun leider ein Signal, welches dann vom Gehirn fehlverstanden wird, und zwar als Ohrgeräusch. Man nennt diesenMechanismus in der Fachsprache „exitotoxischen Tinnitus“. 

Hörnervschädigungen. Der nächste Schädigungsmechanismus kann am Hörnerven auftreten. Das ist selten. Einewichtige Ursache ist das sogenannte „Akustikus-Neurinom“. Es ist ein gutartiger Tumor der äußeren Hülle des Gleichgewichtsnerven, der auf den Hör- und Gleichgewichtsnerven drückt. Dadurch können die Signale nicht mehr korrekt durch den Hörnerven verlaufen. Die entstehenden fehlerhaften Signale führen zuSchwerhörigkeit und/oder zu Ohrgeräuschen.

Zentralisierter Tinnitus. EinTinnitus kann auch im Gehirn (dem sog. „Zentralnervensystem“) erzeugt werden.Hier gibt es zwei Gruppen von Ohrgeräuschen. Die erste Gruppe wird ursprünglich („primär“) im Gehirn erzeugt: Beispielsweise, wenn man bei einem Unfall eine Gehirnerschütterung erlitten hat. Es gibt relativ wenige Indizien dafür, daß ein solcher „primärer“ Entstehungsmechanismus sehr häufig ist. Sehr vielhäufiger ist die Vorstellung, daß ein zentrales Ohrgeräusch seinen Ursprung im Ohr hatte. 

Lassen Sie mich hier einen Vergleich wählen. Sie haben möglicherweiseschon einmal gehört, daß man sich bei einem Unterschenkel-Verletzten, der starke Schmerzen hat, zu einer Unterschenkel-Amputation entschlossen hat. Man sollte meinen, daß er nach seiner Amputation schmerzfrei sei. Leider kann es sein, daß trotz fehlendem Unterschenkel lebenslang Unterschenkelschmerzen vorhanden sind. Man nennt dies einen „Phantom-Schmerz“. Der Schmerz hat sich im Gehirn verselbständigt: er wurde „zentralisiert“. Es ist wie ein Kreislauf: die echte Schmerzinformation kommt ins Gehirn und geht dort in einen Regelkreis hinein. Wenn Sie den häufig genug anstupsen, so läuft er später ganz allein. Auch wenn von außen keine Schmerzinformation mehr kommt.

Genau das gleiche kann beim Tinnitus passieren. Da kommt eine Fehlinformation aus dem Ohr in das Gehirn und geht dort in einen Regelkreis hinein. Wenn dies nur wenige Male passiert, und wir stoppen den Tinnitus im Ohr, dann wird auch der Regelkreis im Gehirn unterbrochen. Wenn der Tinnitus im Ohr jedoch lange oder intensiv genug dauert, kann sich der zentrale Regelkreis verselbständigen. Selbst wenn die Ursache (die Ätiologie) im Ohr aufhört, läuft der zentrale Regelkreis trotzdem weiter (die Pathophysiologie). 

Mans pricht von „zentralisiertenTinnitus“. Daß dies möglich ist, hat man an einigen traurigen Fällen vor vielen Jahren festgestellt, als Arzt und Patient sich in verzweifelten Situationen entschlossen haben, den Hörnerv zu durchtrennen. In einer beträchtlichen Zahl von Fällen ist es danach nicht zu einer Änderung des Ohrgeräusches gekommen: Ein Beweis für die sogenannte„Zentralisierung“ des Ohrgeräusches. 

Was trägt zur Zentralisierung bei und wiekönnen Sie sich selbst helfen, Zentralisierung zu vermindern? Dazu möchte ich Ihnen ein Beispiel aus Ihrer eigenen Erlebniswelt darstellen. Wenn Sie einerRede zuhören, dann konzentrieren Sie sich auf den Redner. Wenn gleichzeitig Ihr Nachbar redet, dann können Sie, wenn Sie hörgesund sind, selbständig die Entscheidung treffen, wen Sie hören möchten: den Nachbarn oder den Redner. Jeder von uns kennt diese Situation auch von einer Party oder von einem Gasthaus: Man kann die Entscheidung treffen, wen man hören möchte. Der entscheidende Punkt dabei ist folgendes: Sie treffen die Entscheidung, was Sie hören wollen. Sie treffen nicht die Entscheidung, was Sie nicht hören wollen. Der letzte Satz ist der wichtigere Satz. Das, was man hören will, dem man sich zuwendet, das wird im Gehirn verstärkt. Das Ohr nimmt alles auf. Das Gehirn entscheidet - Sie entscheiden - was bis zur letzten Stufe der Wahrnehmung vordringt. In der ersten Stufe, so sagte ich eingangs, wird empfunden, daß überhaupt gehört wird. Es wird zunächst entschieden, ob Sprache oder ob beispielsweise ein Straßengeräusch weitergegeben wird. In der nächsten Stufe wird die Entscheidung getroffen, wessen Sprache wahrgenommen werden soll. Entweder die Ihres Nachbarns oder die des Redners. In der letzten Stufe wird das „durchgeleitete“ Sprachsignal dann verstanden. Sie treffen also die Entscheidung für etwas und nicht gegen etwas. 

Nun ist es nicht überraschend, daß derjenige, der plötzlich oder allmählich ein Ohrgeräusch empfindet, sich diesem Ohrgeräusch zuwendet. Er trifft also die Entscheidung für das Ohrgeräusch. Dieser Vorgang kann naturgemäß eine Zentralisierung begünstigen. Die Zentralisierung wird dadurch verstärkt, daß das Hörsystem sehr eng mit den emotionalen Anteilen des Gehirns verknüpft ist.Schließlich empfindet man das Ohrgeräusch ja emotional als unangenehm.

Konzentration auf das Ohrgeräusch und emotionale Einflüsse treiben den Regelkreis „zentralisierter Tinnitus“ immer mehr an: er läuft immer ausgeprägter und wird immer selbständiger. Also: alle Situationen, in denen der Tinnituskranke sich auf sein Ohrgeräusch konzentriert, sind durchaus in der Lage, diesen Kreislauf zu verstärken. Absolute Stille ist eine Situation, in der der Tinnituskranke seinem Ohrgeräusch nicht entweichen kann: dies führt erneut Energie in diesen Kreislauf ein. 

Daher der Rat für Tinnituskranke, völlige Stille zu meiden. Ein angenehmes, leises Hintergrundgeräusch sollte stets vorhanden sein, damit dieser Kreislauf nicht verstärkt wird. 


Wie kann man hier nun therapeutisch eingreifen? Die Therapie kann nicht darin bestehen, daß man sich alsTinnituskranker, mit welcher Methode auch immer, den Befehl gibt: "ich höre mein Ohrgeräusch nicht". Denn Sie wenden sich ja de facto dem Ohrgeräusch zu. Vielmehr müssen Sie sich willentlich einem anderen Reiz zuwenden. Dies ist die Basis der  kognitiven Verhaltenstherapie nach Kröner-Herwig.

Durchblutungsstörungen.  Ein letztes  Beispiel einer Tinnitusentstehung sind die sogenannten Durchblutungsstörungen. Durchblutungsstörungen können im Gehirn und im InnenOhr auftreten. Durchblutungsfördernde Medikamente werden deshalb nicht selten als Behandlungsversuch gegeben. Die Zahl der Betroffenenmit echten Durchblutungsstörungen erscheint aber gering, deshalb gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis für die Wirksamkeit von Durchblutungsmedikamenten (vgl. dazu die Medikamenten-Übersicht in der Tinnitusleitlinie)


Fazit

Die abschließende Frage ist: Warum gibt es nicht das eine  Medikament, das bei allen Patienten wirksam ist ? Die Frage können Sie jetzt selbst beantworten. Sie hörten von einer großen Vielfalt von Funktionsstörungen. Jede einzelne dieser Funktionsstörungen kann ein Ohrgeräusch machen. Für jede einzelne dieser Funktionsstörungen sollte es in der Zukunft ein spezifisches Medikament geben, und noch wichtiger: für jede einzelne dieser Funktionsstörungen sollten wir in der Zukunft ein diagnostisches Hilfsmittel haben. Doch da haben wir Wissensdefizite: Hier liegen die Aufgaben der Tinnitusforschung.

Hingegen führt ein chronischer idiopathischer Tinnitus sehr häufig zur o.g. Zentralisierung: deshalb kann eine kognitive Verhaltenstherapie nach Kröner-Herwig in so vielen Fällen helfen.