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Kategorie: Ohr

Tinnitus: Übersicht

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Titel Aktualisiert aus Zenner (Hrsg): HNO-Heilkunde, Kindle-Edition, 660 S.
Text

Subjektiver oder objektiver Tinnitus

Tinnitus (Ohrgeräusch) ist ein Symptom, also Zeichen einer Krankheit, für sich alleine hingegen keine Krankheit.


Objektiver Tinnitus

Objektiv ist ein Tinnitus, wenn auch der Arzt das Ohrgeräusch hören oder anderweitig erfassen kann. Ein objektiver Tinnitus ist extrem selten und dann zumeist auf Strömungsgeräusche von Blutgefäßen (z.B. Carotis, Emissarien) oder mechanische Funktionsstörungen des Mittelohres (z.B. Stapediusmyoklonie) zurückzuführen. 


Subjektiver Tinnitus

 Fast immer handelt es sich beim Tinnitus um subjektiven Tinnitus, den der Arzt also weder selbst hören noch anderweitig objektiv erfassen kann. Subjektiver Tinnitus ist definiert als Hör-Wahrnehmung, die nicht durch ein akustisches Signal hervorgerufen wird. Die Entstehung ist im Hörsystem. In Analogie zum Phantomschmerz kann Tinnitus daher als Wahrnehmung eines Phantomschallsignals beschrieben werden. Subjektiver Tinnitus kann sporadisch auftreten, ist jedoch meistens dauerhaft und geht überwiegend mit einer Innenohrschwerhörigkeit einher.


Tabelle: Begrifflichkeiten zum Tinnitus

Idiopathisch:

Ursache nicht zu diagnostizieren

Kompensiert:

Patient kann Tinnitus bewältigen

Dekompensiert:

Patient kann Tinnitus nicht bewältigen



Kompensierter chronischer Tinnitus belastet den Patienten, aber er ist in der Lage, seine Situation zu bewältigen.

 

Beim dekompensierten chronischen Tinnitus treten Folgesymptome bzw. Komorbiditäten als Folgeerkrankungen hinzu 


Komorbiditäten. Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) sind häufig und können als vorbestehende Begleiterkrankung oder als Folge des Tinnitus (Folgeerkrankung) in Erscheinung treten. 


1. Typische Folgen (Folgeerkrankung oder Sekundärsymptome) sind Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Somatisierungssymptome, Depressionen und Ängste. Die Beeinträchtigung durch die Folgen des Ohrgeräuschs kann für den Patienten so groß sein, daß extrem selten Suizidalität die Folge ist.


2. Vorbestehende Begleiterkrankungen: ein Teil der Tinnituspatienten weist Störungen


– der oberen Halswirbelsäule (z.B. HWS Syndrom) und/oder

– des stomatognathen Systems (z.B.Kiefergelenkmyarthopathie)

auf, und die Behandlung dieser Störungen kann die Ohrgeräusche günstig beeinflussen. Direkte nervale Verknüpfungen zwischen zervikalen Spinalganglien und auditorischen Kerngebieten im Hirnstamm konnten nachgewiesen werden, so daß über diese Bahnen ein zervikale Beeinflussung der Hörbahn denkbar ist. Aufgrund der ontogenetisch engen Verwandtschaft von Kiefergelenk und Mittelohr werden solche nervalen Verknüpfungen auch zwischen diesen beiden Strukturen vermutet. Es wird postuliert, daß die Spontanaktivität in Nervenbahnen, die vom Kiefergelenk, der Kaumuskulatur und den zervikalen Spinalganglien zu auditorischen Kerngebieten ziehen, bei muskulärem Hyper-tonus der Nacken-, Hals- oder Kaumuskulatur verändert sein könnte; diese beeinflußt die Spontanaktivität in zentralen auditorischen Kerngebieten und erzeugt Tinnitus.


Einteilung in symptomatischen und idiopathischen Tinnitus:

1. Symptomatischer Tinnitus: 

Der Tinnitus ist Symptom eines Krankheitsbildes, z. B. eines M. Ménière, eines Knalltraumas.


Tabelle: Beispiele von Hörstörungen mit symptomatischem Tinnitus

Immer

Akutes Lärmtrauma (ohne Impulslärm)

Knalltrauma (Impulslärm)

Intoxikation mit Acetylsalicylsäure

M. Meniere

Häufig

Caissonkrankheit

Presbyakusis

Commotio labyrinthi

Möglich

Chronisches Lärmtrauma

Felsenbeinfraktur

Ototoxische Medikamente

Versch. Formen der hereditären oder erworbenen kochleären und retrokochleären Schwerhörigkeit 

Otosklerose

Akustikusneurinom 

Explosions-Trauma 

Labyrinthitis



2. Idiopathischer Tinnitus:

Unsere Kenntnisse zur Ursache des idiopathischen Tinnitus sind lückenhaft und weitgehend hypothetisch. Hier einige Beispiele von Hypothesen (Näheres s. Artikel "Tinnitus: Ursachen und Entstehung")


Da subjektiver Tinnitus meist mit einer kochleären Schwerhörigkeit mit positivem Recruitment einhergeht, wird davon ausgegangen, daß Ohrgeräusche zumindestens anfangs meist Ausdruck einer Innenohrschädigung sind, und zwar der inneren Haarzellen oder der äußeren Haarzellen oder sog. extrasensorischer (im Innenohr) als auch retrocochleärer (außerhalb des Innenohres gelegener) Elemente (vgl. Artikel "Tinnitus: eine Einteilung"). Später kann es zur Tinnitus-Zentralisierung kommen, d.h. der Tinnitus wird Ausdruck einer Fehlverarbeitung im Gehirn.


1. So können geschädigte innere Haarsinneszellen  eine veränderte synaptische Entladungsrate zeigen und verändern dadurch die Spontanaktivität des Hörnervs. Diese veränderte Spontanaktivität wird von den nachgeschalteten Hörzentren als Schallsignal verkannt. 


2. Aber  auch isolierte Fehlfunktionen der äußeren Haarsinneszellen, denen eine Verstärkerfunktion im Innenohr zukommt, können im Sinne einer Übersteuerung der Cochlea einen Tinnitus verursachen. 


3. Eine Fehlfunktion der extrasensorischen Elemente der Cochlea stört die Innenohrhomöostase und verursacht dadurch Tinnitus. 


4. Ein  tinnituserzeugender retrocochleärer Mechanismus  ist eine Demyelinisierung einzelner Nevernfasern des Hörnerven; dadurch können Erregungen von Faser zu Faser springen und eine pathologische Synchronisation der Entladung des Hörnervs verursachen. Diesepathologische Synchronisation wird vom Gehirn fälschlich als Schallsignalverkannt und weiterverarbeitet. 


5. Darüber hinaus kann pathologische Spontanaktivität in jedem auditorischen Kerngebiet des Gehirns Tinnitus verursachen. Da die Durchtrennung des Hörnervs bei quälendem chronischen Tinnitus nicht regelmäßig zu einem Verschwinden des Ohrgeräusches führt, wird heute angenommen, daß Tinnitus zwar häufig primär kochleär induziert, aber nach  Chronifizierung auch zentral generiert wird; nach längerer Krankheitsdauer ist also der Ort der ursprünglichen Tinnitusursache (Ätiologie, z.B. im Innenohr) nicht zwingend identisch mit dem Ort der späteren Tinnitusgenerierung (Pathogenese,  im Gehirn).


Klinik (dekompensierter und kompensierterTinnitus)

Der Patient berichtet über die Wahrnehmung eines Ohrgeräusches bei uneingeschränktem Hörvermögen (selten) oder bei unterschiedlich stark ausgeprägter Hörstörung (häufig). Das Ohrgeräusch kann akut auftreten oder aber chronisch seit Monaten oder Jahren bestehen. 

Beim chronischen Tinnitus von länger als 3-6 Monaten Dauer hat sich die o.g. Unterteilung in kompensierten und dekompensierten Tinnitus als praktisch erwiesen.

 

Diagnostik 

Die Diagnose wird u.a. anhand der Angaben des Patienten gestellt. In den meisten Fällen läßt sich die Ursache des Tinnitus nicht eindeutig feststellen. Da die Mehrzahl der Tinnituskranken schwerhörig ist und sich der Ort der Schwerhörigkeit fast immer festlegen läßt, kann hieraus auch auf den Ort der Tinnitusverursachung (Ätiologie) geschlossen werden. Die weitere Diagnose strebt eine Aufklärung möglicher Ursachen oder verschlimmernder Faktoren an.


– Die audiologische Funktionsdiagnostik prüft das Gehör und lokalisiert indirekt den Ort der Tinnitusursache (Ätiologie).

– Die orthopädische Untersuchung forscht nach degenerativen Veränderungen und funktionellen Blockaden der oberen Halswirbelsäule.

– Die zahnärztliche Abklärung erfolgt zur Untersuchung des stomatognathen Systems, z.B. zum Ausschluß einer Kiefergelenksmyoarthropathie.

– Erkrankungen des Zentralnervensystems (z.B. eine Encephalitis disseminata, MS) müssen durch eine neurologische Untersuchung ausgeschlossen werden.

– Die internistische Untersuchung klärt etwaige Stoffwechselstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Nephropathien ab.


Therapie (Einzelheiten s. z.B. Artikel Tinnitustherapie: Kognitive Verhaltenstherapie oder Nationale Leitlinie Tinnitustherapie)


Symtomatischer Tinnitus

Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung. 

Akuter idiopathischer Tinnitus:

Die Therapie des akuten idiopathischen Tinnitus gleicht der des Hörsturzes.

Chronischer idiopathischer Tinnitus:

1. Die Behandlung des kompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus besteht in einem ausführlichen Beratungsgespräch (sog. Tinnitus-Counselling), in dem der Patient über das Krankheitsbild aufgeklärt wird und ihm Bewältigungsstrategien aufgezeigt, sowie Rat und Hinweise zur Prävention einer weiteren Schädigung gegeben werden. 


2. In der Behandlung des dekompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus steht

das

 

  • Tinnitus-Counselling auch an erster Stelle, ist aber meistens allein nicht ausreichend.
  • Tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie (KVT, engl. CBT) hilft dem Patienten fast immer bei der Bewältigung des Ohrgeräusches: hierzu gehört die tinnitusspezifische, manualisierte Verhaltenstherapie nach Kröner-Herwig. 
  •  Es kann für den Patienten hilfreich sein, sich einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Tinnitus-Liga anzuschließen.

Behandlung von Komorbiditäten

1. Bei ausgeprägten Depressionen  kann eine vorübergehende medikamentöse Therapie mit Psychopharmaka notwendig werden. 


2. Schlafstörungen werden im Rahmen der KVT und in der Regel nicht mit Medikamenten behandelt, weil die KVT nachhaltig wirken kann.


3. Bei HWS-Komorbidität:  krankengymnastische Übungsbehandlung im akuten Stadium mit Kälteapplikation, bei chronischem Verlauf Wärmeapplikation mit Fangopackungen, Rotlicht- oder Kurzwellenbestrahlung. Das Tragen von Zervikalstützen (Schanzscher Wattekragen) wird bei ligamentöser bzw. muskulärer Insuffizienz verordnet.


4. Bei Myarthopathien des stomatognathen Systems (Überlastung der Kaumuskulatur): Übungsbehandlungnach Schulte, Zahnsanierung oder Korrektur von Okklusionsstörungen, Tragen einer Aufbißschiene und ggf. Infiltrationsanästhesie von Schmerzpunkten.


Prognose

Das symptomatische Ohrgeräusch beim Halswirbelsäulensyndrom oder der Kiefergelenksmyarthropathie  wird bei suffizienter Behandlung der Grunderkrankung zumindest subjektiv als leiser empfunden. 

Der akute idiopathische Tinnitus kann bei unverzüglich begonnener Therapie in vielen Fällen leiser werden oder zum Verschwinden gebracht werden. In der überwiegenden Zahl der übrigen Fälle geht er in einen chronischen Tinnitus über. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein chronisch-idiopathischer Tinnitus, der länger als 3-6 Monate besteht, von selbst völlig verschwindet, ist außerordentlich gering.  Die Prognose des dekompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus hängt davon ab, ob er sich durch die verschiedenen Maßnahmen in eine kompensierte Form überführen läßt, was mit der KVT sehr häufig gelingt (hier finden sie dazu eine konsentierte Übersicht mehrerer deutscher Fachgesellschaften und hier ein Beispiel einer wissenschaftliche Originalarbeit). Erneute Dekompensationen sind allerdings immer wieder möglich.

 

 
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Titel Aktualisiert aus Zenner (Hrsg): HNO-Heilkunde, Kindle-Edition, 660 S.
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Subjektiver oder objektiver Tinnitus

Tinnitus (Ohrgeräusch) ist ein Symptom, also Zeichen einer Krankheit, für sich alleine hingegen keine Krankheit.


Objektiver Tinnitus

Objektiv ist ein Tinnitus, wenn auch der Arzt das Ohrgeräusch hören oder anderweitig erfassen kann. Ein objektiver Tinnitus ist extrem selten und dann zumeist auf Strömungsgeräusche von Blutgefäßen (z.B. Carotis, Emissarien) oder mechanische Funktionsstörungen des Mittelohres (z.B. Stapediusmyoklonie) zurückzuführen. 


Subjektiver Tinnitus

 Fast immer handelt es sich beim Tinnitus um subjektiven Tinnitus, den der Arzt also weder selbst hören noch anderweitig objektiv erfassen kann. Subjektiver Tinnitus ist definiert als Hör-Wahrnehmung, die nicht durch ein akustisches Signal hervorgerufen wird. Die Entstehung ist im Hörsystem. In Analogie zum Phantomschmerz kann Tinnitus daher als Wahrnehmung eines Phantomschallsignals beschrieben werden. Subjektiver Tinnitus kann sporadisch auftreten, ist jedoch meistens dauerhaft und geht überwiegend mit einer Innenohrschwerhörigkeit einher.


Tabelle: Begrifflichkeiten zum Tinnitus

Idiopathisch:

Ursache nicht zu diagnostizieren

Kompensiert:

Patient kann Tinnitus bewältigen

Dekompensiert:

Patient kann Tinnitus nicht bewältigen



Kompensierter chronischer Tinnitus belastet den Patienten, aber er ist in der Lage, seine Situation zu bewältigen.

 

Beim dekompensierten chronischen Tinnitus treten Folgesymptome bzw. Komorbiditäten als Folgeerkrankungen hinzu 


Komorbiditäten. Komorbiditäten (Begleiterkrankungen) sind häufig und können als vorbestehende Begleiterkrankung oder als Folge des Tinnitus (Folgeerkrankung) in Erscheinung treten. 


1. Typische Folgen (Folgeerkrankung oder Sekundärsymptome) sind Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Somatisierungssymptome, Depressionen und Ängste. Die Beeinträchtigung durch die Folgen des Ohrgeräuschs kann für den Patienten so groß sein, daß extrem selten Suizidalität die Folge ist.


2. Vorbestehende Begleiterkrankungen: ein Teil der Tinnituspatienten weist Störungen


– der oberen Halswirbelsäule (z.B. HWS Syndrom) und/oder

– des stomatognathen Systems (z.B.Kiefergelenkmyarthopathie)

auf, und die Behandlung dieser Störungen kann die Ohrgeräusche günstig beeinflussen. Direkte nervale Verknüpfungen zwischen zervikalen Spinalganglien und auditorischen Kerngebieten im Hirnstamm konnten nachgewiesen werden, so daß über diese Bahnen ein zervikale Beeinflussung der Hörbahn denkbar ist. Aufgrund der ontogenetisch engen Verwandtschaft von Kiefergelenk und Mittelohr werden solche nervalen Verknüpfungen auch zwischen diesen beiden Strukturen vermutet. Es wird postuliert, daß die Spontanaktivität in Nervenbahnen, die vom Kiefergelenk, der Kaumuskulatur und den zervikalen Spinalganglien zu auditorischen Kerngebieten ziehen, bei muskulärem Hyper-tonus der Nacken-, Hals- oder Kaumuskulatur verändert sein könnte; diese beeinflußt die Spontanaktivität in zentralen auditorischen Kerngebieten und erzeugt Tinnitus.


Einteilung in symptomatischen und idiopathischen Tinnitus:

1. Symptomatischer Tinnitus: 

Der Tinnitus ist Symptom eines Krankheitsbildes, z. B. eines M. Ménière, eines Knalltraumas.


Tabelle: Beispiele von Hörstörungen mit symptomatischem Tinnitus

Immer

Akutes Lärmtrauma (ohne Impulslärm)

Knalltrauma (Impulslärm)

Intoxikation mit Acetylsalicylsäure

M. Meniere

Häufig

Caissonkrankheit

Presbyakusis

Commotio labyrinthi

Möglich

Chronisches Lärmtrauma

Felsenbeinfraktur

Ototoxische Medikamente

Versch. Formen der hereditären oder erworbenen kochleären und retrokochleären Schwerhörigkeit 

Otosklerose

Akustikusneurinom 

Explosions-Trauma 

Labyrinthitis



2. Idiopathischer Tinnitus:

Unsere Kenntnisse zur Pathophysiologie des idiopathischen Tinnitus sind lückenhaft und weitgehend hypothetisch. Hier einige Beispiele von Hypothesen (Näheres s. Artikel "Tinnitus: Pathophysiologie")


Da subjektiver Tinnitus meist mit einer kochleären Schwerhörigkeit mit positivem Recruitment einhergeht, wird davon ausgegangen, daß Ohrgeräusche zumindestens anfangs meist Ausdruck einer Innenohrschädigung sind, und zwar der inneren Haarzellen oder der äußeren Haarzellen oder sog. extrasensorischer (im Innenohr) als auch retrocochleärer (außerhalb des Innenohres gelegener) Elemente (vgl. Artikel "Tinnitus: eine Einteilung"). Später kann es zur Tinnitus-Zentralisierung kommen, d.h. der Tinnitus wird Ausdruck einer Fehlverarbeitung im Gehirn.


1. So können geschädigte innere Haarsinneszellen  eine veränderte synaptische Entladungsrate zeigen und verändern dadurch die Spontanaktivität des Hörnervs. Diese veränderte Spontanaktivität wird von den nachgeschalteten Hörzentren als Schallsignal verkannt. 


2. Aber  auch isolierte Fehlfunktionen der äußeren Haarsinneszellen, denen eine Verstärkerfunktion im Innenohr zukommt, können im Sinne einer Übersteuerung der Cochlea einen Tinnitus verursachen. 


3. Eine Fehlfunktion der extrasensorischen Elemente der Cochlea stört die Innenohrhomöostase und verursacht dadurch Tinnitus. 


4. Ein  tinnituserzeugender retrocochleärer Mechanismus  ist eine Demyelinisierung einzelner Nevernfasern des Hörnerven; dadurch können Erregungen von Faser zu Faser springen und eine pathologische Synchronisation der Entladung des Hörnervs verursachen. Diesepathologische Synchronisation wird vom Gehirn fälschlich als Schallsignalverkannt und weiterverarbeitet. 


5. Darüber hinaus kann pathologische Spontanaktivität in jedem auditorischen Kerngebiet des Gehirns Tinnitus verursachen. Da die Durchtrennung des Hörnervs bei quälendem chronischen Tinnitus nicht regelmäßig zu einem Verschwinden des Ohrgeräusches führt, wird heute angenommen, daß Tinnitus zwar häufig primär kochleär induziert, aber nach  Chronifizierung auch zentral generiert wird; nach längerer Krankheitsdauer ist also der Ort der ursprünglichen Tinnitusursache (Ätiologie, z.B. im Innenohr) nicht zwingend identisch mit dem Ort der späteren Tinnitusgenerierung (Pathogenese,  im Gehirn).


Klinik (dekompensierter und kompensierterTinnitus)

Der Patient berichtet über die Wahrnehmung eines Ohrgeräusches bei uneingeschränktem Hörvermögen (selten) oder bei unterschiedlich stark ausgeprägter Hörstörung (häufig). Das Ohrgeräusch kann akut auftreten oder aber chronisch seit Monaten oder Jahren bestehen. 

Beim chronischen Tinnitus von länger als 3-6 Monaten Dauer hat sich die o.g. Unterteilung in kompensierten und dekompensierten Tinnitus als praktisch erwiesen.

 

Diagnostik 

Die Diagnose wird u.a. anhand der Angaben des Patienten gestellt. In den meisten Fällen läßt sich die Ursache des Tinnitus nicht eindeutig feststellen. Da die Mehrzahl der Tinnituskranken schwerhörig ist und sich der Ort der Schwerhörigkeit fast immer festlegen läßt, kann hieraus auch auf den Ort der Tinnitusverursachung (Ätiologie) geschlossen werden. Die weitere Diagnose strebt eine Aufklärung möglicher Ursachen oder verschlimmernder Faktoren an.


– Die audiologische Funktionsdiagnostik prüft das Gehör und lokalisiert indirekt den Ort der Tinnitusursache (Ätiologie).

– Die orthopädische Untersuchung forscht nach degenerativen Veränderungen und funktionellen Blockaden der oberen Halswirbelsäule.

– Die zahnärztliche Abklärung erfolgt zur Untersuchung des stomatognathen Systems, z.B. zum Ausschluß einer Kiefergelenksmyoarthropathie.

– Erkrankungen des Zentralnervensystems (z.B. eine Encephalitis disseminata, MS) müssen durch eine neurologische Untersuchung ausgeschlossen werden.

– Die internistische Untersuchung klärt etwaige Stoffwechselstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Nephropathien ab.


Therapie (Einzelheiten s. z.B. Artikel Tinnitustherapie: Kognitive Verhaltenstherapie oder Nationale Leitlinie Tinnitustherapie)


Symtomatischer Tinnitus

Behandlung der zugrundeliegenden Erkrankung. 

Akuter idiopathischer Tinnitus:

Die Therapie des akuten idiopathischen Tinnitus gleicht der des Hörsturzes.

Chronischer idiopathischer Tinnitus:

1. Die Behandlung des kompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus besteht in einem ausführlichen Beratungsgespräch (sog. Tinnitus-Counselling), in dem der Patient über das Krankheitsbild aufgeklärt wird und ihm Bewältigungsstrategien aufgezeigt, sowie Rat und Hinweise zur Prävention einer weiteren Schädigung gegeben werden. 


2. In der Behandlung des dekompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus steht

das

 

  • Tinnitus-Counselling auch an erster Stelle, ist aber meistens allein nicht ausreichend.
  • Tinnitusspezifische kognitive Verhaltenstherapie (KVT, engl. CBT) hilft dem Patienten fast immer bei der Bewältigung des Ohrgeräusches: hierzu gehört die tinnitusspezifische, manualisierte Verhaltenstherapie nach Kröner-Herwig. 
  •  Es kann für den Patienten hilfreich sein, sich einer Selbsthilfegruppe der Deutschen Tinnitus-Liga anzuschließen.

Behandlung von Komorbiditäten

1. Bei ausgeprägten Depressionen  kann eine vorübergehende medikamentöse Therapie mit Psychopharmaka notwendig werden. 


2. Schlafstörungen werden im Rahmen der KVT und in der Regel nicht mit Medikamenten behandelt, weil die KVT nachhaltig wirken kann.


3. Bei HWS-Komorbidität:  krankengymnastische Übungsbehandlung im akuten Stadium mit Kälteapplikation, bei chronischem Verlauf Wärmeapplikation mit Fangopackungen, Rotlicht- oder Kurzwellenbestrahlung. Das Tragen von Zervikalstützen (Schanzscher Wattekragen) wird bei ligamentöser bzw. muskulärer Insuffizienz verordnet.


4. Bei Myarthopathien des stomatognathen Systems (Überlastung der Kaumuskulatur): Übungsbehandlungnach Schulte, Zahnsanierung oder Korrektur von Okklusionsstörungen, Tragen einer Aufbißschiene und ggf. Infiltrationsanästhesie von Schmerzpunkten.


Prognose

Das symptomatische Ohrgeräusch beim Halswirbelsäulensyndrom oder der Kiefergelenksmyarthropathie  wird bei suffizienter Behandlung der Grunderkrankung zumindest subjektiv als leiser empfunden. 

Der akute idiopathische Tinnitus kann bei unverzüglich begonnener Therapie in vielen Fällen leiser werden oder zum Verschwinden gebracht werden. In der überwiegenden Zahl der übrigen Fälle geht er in einen chronischen Tinnitus über. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein chronisch-idiopathischer Tinnitus, der länger als 3-6 Monate besteht, von selbst völlig verschwindet, ist außerordentlich gering.  Die Prognose des dekompensierten chronischen idiopathischen Tinnitus hängt davon ab, ob er sich durch die verschiedenen Maßnahmen in eine kompensierte Form überführen läßt, was mit der KVT sehr häufig gelingt (hier finden sie dazu eine konsentierte Übersicht mehrerer deutscher Fachgesellschaften und hier ein Beispiel einer wissenschaftliche Originalarbeit). Erneute Dekompensationen sind allerdings immer wieder möglich.